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„Dicke sollen zahlen“ – so lautet der Titel eines Beitrags der Sendung „Markt“ im WDR vom 14.06.2017. Tenor der gut 15 Minuten: Dicke sind selbst schuld, belasten die gesetzlichen Krankenkassen unnötig und sollen zukünftig höhere Beiträge zahlen. Solidarität? Nicht mit Dicken! Fat Shaming vom Feinsten.
Man könnte nun fragen, ob die Redakteure selbst schuld sind, wenn sie keine Ahnung vom Thema haben? Da schreiben sie:
„Der Gesundheitszustand der Bürger in NRW ist widersprüchlich: Immer mehr Menschen leben gesund, achten auf ihre Ernährung, treiben Sport. Aber es gibt auch immer mehr Übergewichtige, die nichts dagegen tun. Warum sollen die Achtsamen für die Unachtsamen mitbezahlen?“
Es gibt also immer mehr „Achtsame“, gleichzeitig aber auch immer mehr dicke Menschen, also „Unachtsame“? Wie soll das zusammengehen?
Obwohl immer mehr Menschen auf ihre Ernährung achten und Sport treiben, gelten nach einer Studie des Robert Koch Institut bereits zwei Drittel der Männer (67 %) und die Hälfte der Frauen (53 %) in Deutschland als übergewichtig. Ein Viertel der Erwachsenen (23 % der Männer und 24 % der Frauen) ist stark übergewichtig (adipös).
Liegt diese Zunahme also wirklich an „Unachtsamkeit“? Sind Dicke wirklich selbst schuld? Was sagen Fachleute dazu?
Martin Wabitsch, Adipositasforscher am Universitätsklinikum für Kinder- und Jugendmedizin in Ulm, sagt in einem Bericht des Deutschlandfunk „Dicke sind nicht selber schuld“:
„Das ist das Adipositasstigma, das wir in unserer Gesellschaft haben. Das ist eine klassische Diskriminierung einer Gruppe, die nichts für ihren Zustand kann.“
Und weiter, dass auch psychische Faktoren eine große Rolle spielen:
„Übergewichtige haben immer das Gefühl, dass sie schlecht sind und die Erwartungen nicht erfüllen. Die neigen dann sehr häufig auch zu Depressionen. Das ist ja ganz häufig bei Adipösen, weil sie dieses Feedback bekommen von ihrer Umgebung.“
Nun, da werden höhere Krankenkassenbeiträge und zusätzliche Stigmatisierung sicher sehr erfolgreich sein!
Es ist eben nicht so, dass Dicke sich nicht genug anstrengen und nicht diszipliniert genug sind, nur als burgerfessende Couchpotatoeungeheuer dahinfaulenzen.
Experten machen Gene verantwortlich, Darmbakterien usw. usf. – viele sagen aber auch, dass man die Ursachen noch nicht wirklich kennt, gerade erst beginnt, sie zu erforschen und die Zusammenhänge zu verstehen.
Vor allem sagen sie aber auch: Essensumstellung und Sport bringen fast nie einen dauerhaften Erfolg.
Sind denn dicke Menschen wirklich so viel kränker?
Das kommt auf die Studie an. Da wird dann auch gern mal getrickst, werden mal eben rund 60% der Probanden aus der Analyse ausgeschlossen, seltsamerweise genau die, für die mehr Kilos einen Vorteil bringen. Damit widerlegt man aber wohl kaum die Studien, die eindeutig belegen, dass dicke Menschen eben nicht per se kränker sind und früher sterben. Wobei, früher sterben ist doch eigentlich praktisch aus Kostensicht? Um so älter Menschen werden, um so mehr kosten sie. Haben Sie schon mal jemand gesund und fit an Altersschwäche sterben sehen?
Sehr zu empfehlen zum Thema „Dicke leben länger“ ist der „Ernährungsunsinn des Monats Juli 2016“ mit Links zu den entsprechenden Studien.
Taugt der BMI überhaupt zur Vorhersage von Gesundheit und Krankheit?
Nein, sagt der Ernährungswissenschaftler Uwe Knop:
„Erstens taugt der BMI nicht zur Vorhersage von Gesundheit und Krankheit oder gar als `Sargnagel´. Zweitens ist der BMI nicht mehr als ein Marker für eine Korrelation, die keinerlei Schlüsse zur Kausalität erlaubt.“
Aufschlussreiches zum BMI findet sich auch in diesem Artikel:
Nordische Rassenlehre: Jetzt auch fettarm erhältlich
Daraus:
„Der Body-Mass-Index taugt also weniger zur Vorhersage von Krankheiten als zur Diskriminierung von Menschen.“
Cui bono? Wem nützt die Diskriminierung von dicken Menschen?
All denen, die mit Diäten und Diätprodukten, „Selbstoptimierung“ & Co ihr Geld, nicht selten goldene Nasen verdienen. Und dahinter steckt eine mächtige Lobby, eine mächtige Industrie.
„Die Sehnsucht nach einer Traumfigur ernährt eine ganze Industrie: Medizintechnik- und Pharmafabrikanten, Nahrungsmittel- und Sportartikelhersteller, Diät- und Fitnessanbieter. An die 100 Milliarden Euro haben alle zusammen 2012 in Europa eingenommen. Allein mit den umstrittenen Lightprodukten erwirtschaften deutsche Lebensmittelkonzerne Milliarden, 900 Millionen gaben Deutsche für Nahrungsergänzungsmittel aus, 140 für Schlankmacher in Pillen- und Pulverform.“
Aus: Die Fett-weg-Industrie – Wie Konzerne am Abnehm-Kult verdienen
Hat die Zunahme an Diätprodukten und Co, haben all die Diäten, Ernährungsratschläge und -pyramiden eigentlich zu mehr dünnen, gesünderen Menschen geführt? Das Gegenteil trifft wohl eher zu.
Hier gibt es einige Buchtipps zum Thema.
Besonders empfehle ich: Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat – überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung
Der Autor, Achim Peters, ist ein deutscher Adipositas-Spezialist. Er entwickelte die Selfish-Brain-Theorie und leitet die seit 2004 bestehende und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte klinische Forschergruppe „Selfish Brain: Gehirnglukose und metabolisches Syndrom“.
Bei der Entstehung von Adipositas spielen demnach Stressfaktoren eine große Rolle. Das können Dauerbelastungen, wie psychosozialer Stress, oder akut-traumatische Belastungen sein.
Nach der Selfish-Brain-Theorie ist bei chronischem Stress eine Gewichtsabnahme durch niedrigkalorische Diäten ungesund, da der Mensch Schaden leidet, wenn er bei niedrigreaktivem Stresssystem nicht die vom Gehirn angeforderte zusätzliche Nahrung zu sich nimmt.
Beim Abbau von Stressbelastungen gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten, gesellschaftliche oder individuelle Faktoren zu verändern.
Die Wirksamkeit von Maßnahmen, die gesellschaftliche Faktoren verändern, konnten kürzlich in einem großen, US-amerikanischen Sozialexperiment gezeigt werden. Die Reduktion von Stressfaktoren wie Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Spannungen in Familien geht mit einer Reduktion der körperlichen und seelischen Belastungen und damit mit einem niedrigeren Körpergewicht einher. (Quelle: Wikipedia)
Aber am Abbau von gesellschaftlichem und individuellem Stress lässt sich nicht so gut verdienen wie an Diätprodukten, ja womöglich wäre diese Maßnahme tatsächlich erfolgreich…
“viele sagen aber auch, dass man die Ursachen noch nicht wirklich kennt, gerade erst beginnt, sie zu erforschen und die Zusammenhänge zu verstehen.“
Ernsthaft? Ein Blick in die Supermärkte, auf unseren Lebensstandard. Wir haben 24/7 Essen verfügbar und keinen Grund uns großartig zu bewegen. Wir sind beauem. Deswegen ist die Gesellschaft kollektiv zu dick. Und wenn man aus dem Schema ausbrechen möchte, muss man das ganz allein bewältigen. And again, Diätprodukte und -programme sind bequem, man bekommt was vorgegeben, man lernt nichts über Nährstoffe und die Funktionsweise des Körpers (zumal darüber so viele Fettlogiken existieren) und die Diät scheitert.
Und warum sind dann nicht alle dick? 😉 Natürlich spielen die ständige Verfügbarkeit von Essen, Bequemlichkeit & Co eine Rolle. Aber scheinbar nicht die einzige. Und welche weiteren Faktoren da mit rein spielen, wie sie zusammenhängen usw., da besteht meines Wissens noch so einiger Forschungsbedarf.