Fünf vor Zwölf

Gedanken am späten Vormittag:
„Fünf vor Zwölf“

Liebe Zeit
Wer bin ich heut‘?
Wer war ich gestern
Und wer werd ich morgen sein?

Niemand, wenn ich nicht ich bin.
Nur der, den sich die anderen gedacht,
Der ihnen passt,
Weil ich sie lass.

Will niemand mich preisgeben
Und verschenke mich doch jede Sekunde.
Verschleudere das einzige, das ich je wirklich besaß
Und jemals besitzen werde: Mich!

Warum, fragst du?
Vielleicht, weil es so viele tun.
Man mich lehrte, wie man tut
Und was passiert, wenn man nicht tut.

Nein, weil ich zu feige bin.
Zu feige, mich wenigstens selbst nicht zu belügen,
Zu feige, nein zu sagen, wenn sie verlangen
Zu werden wie sie, ihre Lehren zu befolgen.

Zu feige zum Leben.
Nur fähig zuzuschauen und gelebt zu werden.
Unfähig ein Mensch zu sein.
Gerade gut genug für eine Marionette.

Kein Herrscher ohne jemand, der sich beherrschen lässt!
Ich schau auf die Uhr, es ist fünf vor zwölf.
Bald gibt’s Mittag, denke ich.
Leider denken viele so.

 

 

CW 1974